Mit Flecke international untersuche ich an Orten weltweit gemeinsam mit Einwohner:innen das lokale Unbewusste.
Von Juli 2021 bis Oktober 2022 arbeite ich in Söhlde, einem Dorf in Niedersachsen/Deutschland mit 2456 Einwohner:innen. Ich bin in Söhlde aufgewachsen, und ein Teil meiner Familie lebt hier.
Flecke machen und deuten
100 Einwohner:innen machen mit mir Zufalls-Flecke und sagen mir, was sie darin sehen: Farbe auf Papier tropfen, das Blatt zusammenfalten und wieder auf – der Fleck ist da. Ich frage: Was könnte das sein? und protokolliere alle Deutungen.
Der Schweizer Psychoanalytiker H. Rorschach entwickelte vor etwa 100 Jahren den sogenannten Rorschach-Formdeuteversuch („Tintenklecks-Test“), bei dem Proband:innen zu zehn vorgefertigten, standardisierten Fleck-Abbildungen assoziieren.

Das Unbewusste
Die Fleck-Deutungen der Proband:innen sollten exakt protokolliert werden und Aufschluss über ihre Persönlichkeit geben. Er wollte mit seinem Test das Unbewusste einzelner Proband:innen erreichen und wissenschaftlich auswerten.
Das Unbewusste ist ein Begriff aus der Psychologie, der eine verborgene, psychische Instanz in unserem Inneren beschreibt, auf die wir keinen unmittelbaren rationalen Zugriff haben.
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat gesagt, dass das Unbewusste der Ort ist, an dem Erlebnisse, die wir nicht direkt bewältigen können, von uns unbemerkt abgelegt/ verdrängt werden. Die Verdrängung dient demnach zunächst als Schutz, wenn uns eine Situation überfordert. Sie kann sich aber in ihr Gegenteil verkehren, wenn die Ursachen für die Überforderung von uns langfristig unerkannt und ungelöst bleiben. Denn obwohl das Unbewusste verborgen ist, wirkt das Verdrängte in uns und macht sich in unserem Handeln bemerkbar. Es kann zu neuen schwierigen Situationen / Konflikten führen.
Sich das Unbewusste zugänglich zu machen, wird deshalb in der Psychologie als wichtiger Schritt angesehen, um unser eigenes Verhalten besser zu verstehen und Konflikte mit uns selbst und anderen zu bearbeiten/ verändern/ lösen.
In Momenten, in denen wir unseren Verstand nicht kontrollieren, z. B. wenn wir träumen oder Zufallsflecken deuten, können wir Zugang zu unserem Unbewussten bekommen.
Im Dorf
Ich verändere die Methode: Was kommt zum Vorschein, wenn ein ganzes Dorf selbst Flecke macht und sie interpretiert? Welche lokalen, sozialen, ökonomischen, politischen, atmosphärischen Eigenheiten werden sichtbar? Welchen über-/individuellen Erkenntniswert können Deutungen bekommen? Und wie können sie in Söhlde produktiv werden?

realisieren,
Als anonymisierte Liste hänge ich die Deutungen für alle lesbar in den Schaukästen am ehemaligen Rathaus aus. Sie werden nach und nach realisiert – allein, als Gruppe oder zusammen mit mir: ein Tanz-Video, eine Schnurrbart-Foto-Serie, ein Interview mit dem Prokuristen des Kreidewerks über Logos und Dinosaurier usw.
Es zeigt sich, dass Deutungen einerseits wie Handlungsanweisungen funktionieren können und z. B. dazu motivieren, Ponchos zu nähen oder Motorräder speziell zu parken. Andererseits schärfen sie den Blick auf das, was es im Dorf gibt, so dass gedeutete Motive auch einfach gefunden werden wie ein Stück Raumfahrtanzug im Dorfarchiv.
sprechen
Wenn ich in Söhlde unterwegs bin, führe ich viele Gespräche. Mir wird von Erfahrungen im Dorf, Ideen, Interessen, Bedürfnissen genauso wie von Sachbeschädigung und Wut erzählt.
Ich nehme an Ortsratssitzungen teil, rede mit der Schulleiter:innen, dem Pastor, der Bürgermeisterin und der Sozialarbeiterin. Ich treffe Jugendliche, Senior:innen und den Schützenverein, Nachbar:innen und den Gebrauchtwagenhändler. Wir sprechen über Flecke, aber auch über das, was hier wichtig ist und was wir zusammen machen können.
und sichtbar machen.
Ich lade zu öffentlichen Anlässen wie einem Schwarzplan-Spaziergang ein und nutze dörfliche Veröffentlichungswege, um Ergebnisse sichtbar zu machen: Posts auf der Facebook-Seite der Dorfgemeinschaft, Zeitungsartikel und Plakate vor Ort. Alles entstehende Material wird an das Dorfarchiv übergeben.


Karen Winzer
Mit meiner künstlerischen Arbeit untersuche ich immer wieder soziale Situationen an sehr unterschiedlichen Orten. Dabei können z. B. architektonische, politische, historische Eigenheiten zum Ausgangspunkt werden: ein bautechnischer Fehler in der Kölner Philharmonie, eine umstrittene Großbaustelle in Berlin, die von politischen Systemwechseln geprägte Bebauung zweier Straßenseiten in einer Stadt in Ostdeutschland.
Ich befrage Leute vor Ort und lade sie zur Zusammenarbeit ein: Ihre Perspektiven, Interessen und Fähigkeiten formen den Arbeitsprozess ein. Die Ergebnisse werden lokal veröffentlicht und für alle Beteiligten sichtbar.
Mit Flecke international mache ich nun das lokale Unbewusste zum Ausgangspunkt meiner kooperativen Forschung.
und Alle
Flecke im Dorf/Flecke international Söhlde ist nur möglich durch die Offenheit und Beteiligung so vieler Söhlder:innen und die oft unsichtbare Unterstützung u. a. durch Mareike Backhaus, Bauhof Stadt Hildesheim, Renate Bollmann, Ole Borchers, Ulla Burgdorf, Christiane Evers, Gabi Fasterding, die Mitarbeiter:innen der Gemeindeverwaltung, Marcel Giffey, Michael Gille, Marion Glawion, Judith von Hermanni, Siggi Kentsch, Christina Krause, Gisela Kuchenbecker, Jan Hendrik Kursawe, Sibylle Löffler, Henrik Loges, Gabriele Meinhardt, Edwin Milbradt, Carola Nitsche, Stefan Schwarz, Thomas Schwarz, Heike Sprengel, Kerstin Wagner, Sabine Weddige, Familie Winzer
und die Freundschaft/ Arbeit von Franziska Barišić, Kirsten Blümke, Petra B., Anika Büssemeier, Daniela Bystron, Andreas Eschment, Florian Gwinner, Anja Nothdurft, Toni Parpan, Mareike Poehling, Markus Strieder und Anna-Lena Wenzel.
Flecke im Dorf/Flecke international Söhlde wird organisatorisch wie ideell unterstützt durch die Landfrauen Steinbrück/ Söhlde und großzügig finanziell gefördert durch den Ortsrat und die Gemeinde Söhlde, den Landkreis/ Kulturbüro Hildesheim, das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die Stiftung Kunstfonds.
hallo@karenwinzer.de
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